In Österreich sind etwa 13.500 Menschen von Multiple Sklerose (MS) betroffen. Das ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, die meist bei jungen Erwachsenen auftritt. Meist beginnt die Krankheit mit einem akuten „Schub“ und verläuft auch schubförmig weiter. Zwischen den Schüben verschlechtert sich die Krankheit nicht. Nach etwa 10 bis 15 Jahren verschlimmert sich die Erkrankung bei etwa der Hälfte der Betroffenen kontinuierlich. Gefühlsstörungen in den Extremitäten, Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen sowie rasche körperliche und geistige Ermüdbarkeit sowie kognitive Beeinträchtigungen sind di häufigsten Symptome.
Der Schweregrad der Erkrankung wird über die sogenannte EDSS (Expanded Disability Status Scale) auf einer Skala von 0 bis 10 definiert. „Diese sagt jedoch nur bedingt etwas über die Arbeitsfähigkeit aus“, erläutert Priv.-Doz. Dr. Jörg Kraus, Neurologe in Zell am See und Präsident der Österreichischen Multiple Sklerose Gesellschaft (ÖMSG). „Bei rein körperlichen Tätigkeiten ist eine Arbeitsunfähigkeit natürlich deutlich schneller erreicht als bei einem Bürojob. Gerade bei geistigen Tätigkeiten können MS-Patienten aber auch dann oft noch tätig sein, wenn sie körperlich bereits deutlicher eingeschränkt sind.“
In der Praxis arbeiten Personen mit MS häufig jedoch nicht. Das zeigen die aktuellen Daten aus der europaweit durchgeführten Cost oft Illness (COI)-Studie mit insgesamt knapp 17.000 Patienten, die auch in Österreich durchgeführt wurde. Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, MSc von der Medizinischen Universität Wien hat die österreichischen Daten analysiert und berichtet: „54 Prozent aller Studienteilnehmer im erwerbsfähigen Alter arbeiten nicht, 43 Prozent davon gaben MS als Grund dafür an. Erschreckend ist auch, dass bereits 50 Prozent der Patienten mit einem leichten Behinderungsgrad (EDSS 0 bis 3) nicht mehr berufstätig sind.“ Weitere Ergebnisse der Studie: 73 Prozent der arbeitenden MS-Patienten berichteten, dass die Krankheit ihre Produktivität bei der Arbeit beeinträchtigt. Besonders unangenehm sind Fatigue (krankheitsbedingte vorzeitige Erschöpfung) (60 %), gefolgt von eingeschränkter Mobilität (30 %), kognitiven Problemen (25 %), Schmerzen (19 %) und getrübter Stimmung (18 %).
„Oft muss man mit diesen Symptomen aber nur richtig umgehen, um trotzdem arbeiten zu können“, so Kraus. „Entscheidend für die Arbeitsfähigkeit ist, wie sehr Unternehmen ihren Mitarbeitern unterstützend entgegenkommen. Kann jemand, der häufig von Fatigue geplagt wird, häufiger Pause machen oder Teilzeit arbeiten, wird er auch länger im Erwerbsleben bleiben können.“
Damit Arbeitgeber ihren Mitarbeitern zukünftig besser helfen können, braucht es Aufklärung, ist Karin Krainz-Kabas, Geschäftsführerin der MS Gesellschaft Wien überzeugt. „Mehr Information führt zu mehr Verständnis. Die Verantwortlichen in den Firmen würden dann zum Beispiel wissen, dass MS meist in Phasen verläuft und dass nach schwierigen auch wieder gute Phasen kommen, in denen die Mitarbeiter produktiver sind.“ Marlene Schmid von der Multiple Sklerose Gesellschaft Tirol regt auch ganz praktische Hilfe wie die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten oder den vorübergehenden Einsatz von Arbeitsassistenten an. „Arbeitsassistenten unterstützen die Patienten am Arbeitsplatz und damit in weiterer Folge auch die Unternehmen. Sie geben ganz praktische Hilfestellungen, indem sie zum Beispiel empfehlen, einen Drucker in der Nähe des MS-Betroffenen zu installieren, um diesem den Weg zum Gemeinschaftsdrucker zu ersparen. Oder sie setzen sich für Ruhepausen ein, wenn jemand an Fatigue leidet.“ Die Kosten dieser Arbeitsassistenten werden von der öffentlichen Hand getragen.
Auch Programme zur Unterstützung chronisch kranker oder behinderter Menschen – nicht nur für Personen mit MS – nach längeren Krankenständen gäbe es ja schon, ergänzt Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA. Sie müssten nur noch weiter ausgebaut und verfeinert werden. „Unternehmen, die sich dafür entscheiden, Personen mit Einschränkungen einzustellen oder weiterzubeschäftigen, können auf Antrag – genau wie die Betroffenen selbst – vielfältige finanzielle Förderungen von der öffentlichen Hand erhalten“, erläutert Rupp. „Verschiedene relativ junge Instrumente wie etwa fit2work oder die befristete Arbeitszeitreduktion nach den Regeln des Wiedereingliederungsteilzeitgesetzes sind sehr gute Ansätze, das in anderen Ländern bereits erprobte „disability management“ für Österreich zu adaptieren.“ Beide Programme hätten aber einen entscheidenden Makel, so der Experte: „Es gibt keinen Rechtsanspruch dafür. Das heißt, dass die Unternehmen freiwillig mitmachen müssen. Für die Betroffenen ist das ein großer Nachteil.“ Ganz wichtig sei es auch, sich um die jungen Menschen nach der Diagnose zu kümmern. Rupp: „Ausbildungs- und Berufsentscheidungen, die ohne fachliche Beratung, unter dem Eindruck von schwerwiegenden Diagnosen getroffen werden widersprechen häufig dem intellektuellen Potenzial und den Krankheitsverlaufsprognosen für die Betroffenen.“ Ein wichtiger Ansatzpunkt sei hier eine gute fachliche Beratung.
Generell sei ein Umdenken in der Gesellschaft notwendig, so Rupp. Denn: „Von den 4,3 Millionen erwerbstätigen/arbeitssuchenden Österreichern sind mehr als zwei Millionen chronisch krank oder haben Einschränkungen. An entsprechenden Anpassungen der Arbeitsumstände wird also in naher Zukunft kein Weg vorbei führen.“
- Presseaussendung "Endstation Frühpension" vom 21. 11. 2018, Fine Facts Health Communication